Winteraustreiben in Boxdorf

Es wird Zeit, einmal nachzuhaken, seit wann gibt es diesen Brauch, wann verschwand er und vor allem warum.

In Kürze: der Brauch wurde über tausend Jahre praktiziert, er wurde durch Friedrich August II. verboten und die Radeberger sind Schuld???

Todaustragen in Mähren

Bild aus Seite 177 in “Die Gartenlaube”.
Bildunterschrift: „Das Todaustragen in Mähren.
Originalzeichnung von W. Grögler.“
Publisher: Ernst Keil´s Nachfolger

Äh, wie jetzt genau? Also: Die Germanen und Slawen kannten nur zwei Jahreszeiten, Winter und Sommer. Der alte Volksglauben verband mit dem Winter Tod, Pest, Kälte und Unfruchtbarkeit, während der Sommer Leben, Gesundheit, Wärme und Fruchtbarkeit hervorbrachte. Das Winterverjagen  und Sommerreinholen wurde durch das Todaustreiben und das Sommereinfangen symbolisiert. Neujahr begann nach dem vorgregorianischen Kalender am 25. März. Endlich war der helle Tag der Dunkelheit der Nacht überlegen. Und so feierte man zu Laetare, dem 4. Fastensonntag, den Brauch des Todaustragens wie ein Volksfest.

Was war das nun für ein Brauch? Trotz regionaler Besonderheiten erkannte man immer ein einheitliches Schema: es wurden bestimmte Lieder gesungen, dazu eine Strohpuppe durch den Ort getragen und anschließend verbrannt. Diese Puppe trug den Namen “Tod”. Sie war bei uns männlich. Im Böhmischen ist der Tod sprachlich allerdings weiblich, somit auch die Puppe, die man “Tödi” nannte. Im Laufe der Zeit erfuhr die Tradition unterschiedlichste Wandlungen. Teilweise erhielt sich das einfache Austragen des Todes, dann wurde es zu einem Wettstreit zwischen Sommer und Winter, wobei der Winter natürlich immer verliert oder der Brauch verkam zu einer feisten Volksgaudi usw.

Todaustragen in Radeberg

Beiträge zur Sächs. Volks- und Heimatkunde. Mit Zeichnungen von Professor O. Seyffert und Maler F. Rowland. Leipzig 1904.
Sagen, geschichtliche Bilder und denkwürdige Begebenheiten aus Sachsen.
Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden

Das Todaustragen geht sicherlich auf vorchristliche Bräuche, die in Verbindung mit Fruchtbarkeitsfesten stehen, zurück. In der frühen Phase des Christentums wurde eine Integration alter Bräuche in die Kirche nicht nur zugelassen, sondern auch gefördert. Im Evangelium des Donnerstags nach Laetare wird berichtet, wie Jesus einen jungen Mann, der zuvor durch ein Stadttor nach draußen getragen worden war, wieder zum Leben erweckt. Das Todaustragen in seinen Anfängen könnte also durchaus eine Verbildlichung oder Nachstellung von Predigten sein. In dieser Form wurde der Brauch von der Kirche angenommen. 

Und warum verschwand der Brauch dann? Nun, die Kirche hatte in vielen Fällen das Sagen. Im Zuge der großen Pestepidemien im Europa des 14. Jahrhunderts verkam die Tradition zu abergläubischem Austreiben des Pesttodes. In der Prager Synode von 1366 wurde das Treiben verurteilt und verboten. Im Meißner Land hieß der Erlass “Verbot wider dem heidnischen Brauch”. Aber das Verbot fruchtete nicht. So schnell lässt sich eine tausendjährige, wenn auch sicherlich mehrfach umgedeutete Tradition, nicht eliminieren. Also ließ die Kirche den Brauch wieder zu und vereinnahmte in vollends. Wir erinnern uns an das erwähnte Evangelium? Mit der Asche zu Aschermittwoch wird die Vergänglichkeit des Menschen symbolisiert. So beginnt das Fasten. In der Mitte der Fastenzeit hat Jesus Christus durch die Auferweckung eines Toten seine Überlegenheit über den Tod gezeigt und auf seine in 21 Tagen bevorstehende Auferstehung hingewiesen. 

Mit der Reformation kam zum Todaustragen auch das Austreiben des Winters hinzu. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, ganz in der neuen Tradition der Romantik, verschwand der christliche Anteil und es blieb der Wettstreit um Sommer und Winter. Volksfest war nun angesagt. Nun gar nicht mehr im Sinne der Kirche. Also verbieten? Nun ist aber auch der Einfluss der Kirche geschwunden. Wer soll dem Volke sein spaßiges Treiben verbieten? Es war dann doch der katholische Herrscher in protestantischen Landen, der dem uralten Brauch den Garaus machte. Doch dazu bedurfte es eines heftigen Anlasses!

Todenmühle

Gedicht über den alten Brauch des Todaustreibens, an der Fassade der Ullersdorfer Mühle, an der Dresdner Heide

Kommen wir jetzt zur Schuld der Radeberger? Ja , genau. Am 28. März 1745 trug sich ein tragisches Unglück in Radeberg zu. Es war wieder einmal der 4. Fastensonntag und ein großes Treiben stand bevor. Doch neun Jungen im Alter von 7 bis 12 Jahren mussten als Singeknaben bei einer Bestattung zur Verfügung stehen und verpassten die Sause. Sie beschlossen, nur für sich das nette Treiben nachzuholen. Sie holten ihren Popanz aus Stroh, schleppten ihn mit viel Geschrei durch die Gassen, um ihn dann vor den Toren der Stadt in eine sumpfige Grube zu werfen. Der Älteste von Ihnen fand am Ufergelände der Röder ein Kraut mit einer verdickten Wurzel. Er hielt es für eine Möhre. Welch fataler Irrtum. Er rief noch den anderen Jungs zu “wer von der Wurzel ist, kann schneller laufen”. Also gesagt, getan! Doch oje, war nix mit Möhrchen, sie bissen in die Wurzel der Schierlingspflanze  😯🤢🤮.

Acht der neun Kinder erkrankten, mit schweren Blutungen und starken Anfällen schleppten sie sich heimwärts. Vier Kinder verstarben noch am Nachmittag, sie hatten tatsächlich von der Wurzel gegessen. Drei spuckten sofort aus und überlebten, einer verstarb am nächsten Tag. Ein achtjähriger Bub biss nicht in die Wurzel. Nicht nur wir verdanken ihm die Angaben zu dieser Geschichte, sondern vor allem die Eltern und die kursächsische Untersuchungskommission. 

Der Sohn August des Starken, Friedrich August II., ließ sich von der Vergiftungskatastrophe berichten. Die Kirchenoberen beider Hauptkonfessionen wurden bei ihm vorstellig. Der Druck nahm zu. Berichte mit Aussagen “von bösen Dämonen” oder “durch bösen Zauber verblendet” veranlassten den Monarchen zum Handeln. Er erließ ein Mandat zum Verbot des unchristlichen Todaustreibens. Nach weiteren Verschärfungen 1746 und 1747 kam das Todaustreiben als Volksbrauch zum Erliegen. Die Radeberger Jungs hatten einen wesentlichen Anteil daran. 

Kartenausschnitt Boxdorf

Flur Boxdorf, Mark Cunnersdorf, Todwiesen

Das wars, alles weg? Nein, der Brauch kam zwar zum Erliegen, aber überall lebt die Erinnerung in alten Flurnamen fort. Entlang der Priesnitz kennen wir den Todberg mitsamt den Todberghäusern, die Todmühle und zwei Todbrücken, eine bei Ullersdorf, eine bei Klotzsche. Vielerorts gibt es Toten- oder Todwiesen, wie an der Radeberger Röder oder die Todenpfütze bei Boxdorf. Im Archiv haben wir auf der gezeigten Flurkarte die “Todtwiesen” entdeckt. 

Heute erlebt der Brauch eine Renaissance. Winteraustreiben ist in vielen Regionen wieder attraktiv. Jedoch wird ein Volksfest nur dann traditionell, wenn man auf die Wurzeln achtet (Vorsicht: doppeldeutig 🤦‍♂️). Wir haben für uns alte Texte widerbelebt, die einen Wettstreit von Sommer und Winter beinhalten, einen Tanz, das Austragen einer Strohpuppe und das anschließende Verbrennen. So lässt sich ein Großteil der jahrtausendalten Bräuche komprimiert darstellen, mit all seinen heidnischen und christlichen Bezügen. 

 

Quellen: 
Hans-Werner Gebauer, Sächsische Zeitung, 24. März  1995
wikipedia.de
bierstadt-radeberg.de
Dokumente, Berichte und Kopien aus dem Boxdorfer Heimatarchiv

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